Dienstag, 20. September 2016
Die Schweiz
Zum Anfang möchte ich auf ein Thema eingehen, was mich selbst stark betrifft. Ich bin letztes Jahr in die Schweiz ausgewandert, um meinen Doktor in Geschichte zu machen.
Gleich wurde ich von vielen Leuten angesprochen, wie schön die Schweiz wäre und, dass dort alles besser als in Deutschland ist. Diese Leute kannten die Schweiz natürlich nicht persönlich, sondern hatten ihr Wissen aus Reportagen und vom Hörensagen.
Ich war unvoreingenommen in die Schweiz gekommen und hatte mich vorher nie wirklich mit diesem Land beschäftigt.
Mein erster Eindruck war durchweg positiv. Die Stadt, in der ich ausstieg, war sehr sauber, die Menschen waren sehr freundlich und gut aufgelegt. Meine ersten Kontakte mit der einheimischen Bevölkerung waren trotz sprachlicher Barrieren (vor allem Französisch) gut.

Ich wohnte zuerst in einem Wohnheim und nach drei Monaten zog meine Freundin nach. Ich musste zu Beginn meiner Einreise einen Ausländerpass beantragen und mir von der Fremdenpolizei bestätigen, dass ich in der Schweiz arbeiten darf. Das geschah ohne weitere Probleme. Um meine Freundin war es allerdings anders bestimmt. Sie musste zwar dieselben Dokumente einreichen, aber ihre Passbilder sind beim Postweg zweimal komischerweise verloren gegangen, wobei die anderen Dokumente angekommen sind. Nachdem sie die Bilder dann persönlich abgab, bekam auch sie ihren Ausländerausweis.
Dabei hatten wir noch Glück, da wir EU-Bürger sind. Ich habe von anderen Fällen gehört, bei welchen Arbeitnehmer mehrere Monate auf ihren Stellenantritt waren mussten, da die Fremdenpolizei nicht mitspielte.
Etwas anderes war mir nicht in dieser Art und Weise bekannt: Das Krankenkassensystem. In der Schweiz sind Pflichtbeiträge ab monatlich 300 CHF pro Person nötig, ohne, dass es eine Familienversicherung gibt. Des Weiteren werden nie alle Behandlungskosten bezahlt, sondern ca. 10-20 % müssen zusätzlich selbst übernommen werden. Ich hatte mich mit einigen Schweizern über das Krankenkassensystem unterhalten und zu meiner Verwunderung bekam ich ausschließlich negative Rückmeldungen.

So viel zu dazu, dass in der Schweiz die "glücklichsten" Menschen leben. Es ist aber noch bemerkenswert, dass die Menschen in Umfragen angeben, dass sie sehr glücklich sind. Woran liegt das? Mir ist aufgefallen, dass viele Schweizer sind sehr gut arrangieren können. Viele heiraten z.B. nicht aus Liebe, sondern damit sie jemanden haben. Viel Unmut gibt es über die eben beschriebene Krankenversicherung, aber daran geändert wird nichts. Auch die Preise sind ein Diskussionspunkt, aber viele Schweizer fahren lieber ins Ausland einkaufen und entgehen damit den Problemen. Die Schweizer sind sehr stolz auf ihre Schweiz und wie könnte es anders sein, als dass sie dann auch (offiziell) glücklich sind dort zu leben? Ich finde auch die direkte Demokratie in der Schweiz sehr gut und wäre "glücklich" darüber. Frustrierend ist es dann bloß, wenn nicht die meines Erachtens vernünftigste Wahl getroffen wird, wie z.B. keine 2. Autoröhre durch den Gotthard zu bauen, sondern eben diejenige, die die Mehrheit durch Populismus überzeugt hat.

Was mir aufgefallen war, war, dass man als Hochdeutschsprechender (zwar mit sächsischem Dialekt) in der Schweiz nicht sonderlich positiv empfangen wird: Eine Unterkühltheit wird im Gespräch deutlich, wenn man das erste Hochdeutsche Wort sagt.
Die aus Deutschland stammenden Personen bilden aktuell die zweitstärkste Gruppe an Ausländern in der Schweiz bilden (http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/01/07/blank/key/01/01.html) und werden dennoch nicht bewusst wahrgenommen. Das ist mir aus Gesprächen mit Schweizern aufgefallen. Stattdessen werden Minderheiten wie Albaner deutlich höher in ihrer Anzahl in der Schweiz eingeschätzt, obwohl sie nicht einmal in der Statistik aufgeführt werden.
Des Weiteren wurde meiner Freundin gesagt, dass ihr Bachelor of Art und ihr Ergotherapeut an einer international anerkannten Fachschule in der Schweiz nicht anerkannt werden und sie ein Anerkennung machen müsse. Uns wäre so ein Zenario in der heutigen Zeit nie im Traum eingefallen. Von Schweizern habe ich allerdings auch dieses Problem gehört: Abschlüsse aus anderen Kantonen werden nicht anerkannt. Und dann bekommt man noch von den Schweizern zu hören: "Du bist ja auch ein Ausländer." So etwas Diskriminierendes! Arbeitsrechtlich darf eigentlich kein Bewerber mit Begründung der falschen Herkunft oder Religion etc. nicht angestellt werden - zumindest ist es so in Deutschland geregelt. Die Schweizer denken, dass sie sich dieses Recht herausnehmen dürfen.
Mir kommt es allerdings zum einen so vor, als möchte man keine Deutschen in der Schweiz, was auch mit einer starken Auswanderung der Deutschen quittiert wird. Zum anderen werden allerdings Ausländer benötigt. Das hängt meines Erachtens auch mit dem Gesundheitssystem zusammen. Ich habe mit einigen Schweizern geredet, die gerne Kinder haben wollen, sich diese aber nicht leisten könnten oder ihre berufliche Karriere nicht begraben wollen. Wieso? Die Kosten für Kinderbetreuung in der Schweiz sind enorm hoch. Viele berichten, dass ein komplettes Gehalt dabei draufgeht. Viele Eltern teilen sich somit rein. Entweder geht nur eine Partei arbeiten (meist der Mann) oder die Frau und der Mann gehen je nur 50 % um somit die Kinderbetreuung zu sparen. Damit fehlt allerdings immer eine ganze Person auf dem Arbeitsmarkt, die dann mit einer ausländischen Arbeitskraft ersetzt werden muss.
Trotz, dass auf die "Wucherdütschen" geschimpft wird, fahren viele Schweizer nach Deutschland einkaufen, da sie ca. 50 % sparen. Anders wäre es für den normalen Schweizer nicht möglich, Geld zu sparen. Denn die Lebensmittel und Kosten haben sich den Schweizer Löhnen sehr gut angepasst. Dank der EU bzw. Nicht-Mitgliedschaft mit der EU profitiert die Schweiz von den günstigen Preisen im Ausland und höheren Löhnen im Inland, die durch eine EU-Mitgliedschaft nicht gehalten werden könnten.
In der Schweiz ist es allerdings im Gegensatz zu Deutschland einfacher möglich, einen guten Verdienst zu bekommen, da das Grundgehalt deutlich höher ausfällt. Wenn man also sehr gut ausgebildet ist und eine Führungsposition anstrebt, dann lohnt es sich, in die Schweiz auszuwandern. Häufig werden für hohe Führungspositionen Deutsche genommen, wobei die höchsten Positionen von Schweizern besetzt sind. Mir hatte ein Schweizer gesagt, dass erst ab einem Jahresgehalt von 80.000.- CHF ein höherer Lebensstandard als in Resteuropa möglich ist. Ein derartiges Gehalt ist nicht so ungewöhnlich wie in Deutschland. Auch in Deutschland ist eigentlich das Gehalt sehr hoch, wenn man das Arbeitgeberbrutto (gibt es nicht in der Schweiz, sondern entspricht dem Arbeitnehmerbrutto) betrachtet. Vom Arbeitgeberbrutto werden allerdings so viele Lohnnebenkosten abgezogen (Krankenkasse, Pensionskasse, Unfallschutz, Steuern etc.), dass es nicht mehr vergleichbar mit dem Schweizer Lohn ist. Der Schweizer Lohn wird dahingegen ohne Abzug von Steuern oder Krankenkassenbeiträgen ausgezahlt. Damit trügt der Eindruck des hohen Grundgehalts.


Meine Reflexion:
1. Die Meinungen und Bildern, die in Reportagen oder Zeitungen dargelegt werden, sind häufig einseitig und stellen nicht die wirkliche Situation oder beide Seiten dar. Dieselbe Illusion wird im sog. "American Dream" oder in der Vorstellung, dass in Berlin alles möglich ist, erzeugt. Diese Wunschvorstellungen und Mythen entstehen durch zu geringe Reflexion.
2. Gleichzeit ist das gesellschaftliche Phänomen anzusprechen, dass immer wieder gesagt wird, dass es woanders viel besser ist. Auch die Schweizer tuen dies übrigens. Meistens auch die, die wenig Ahnung haben, wie es tatsächlich woanders ist. Wieso wird dann aber nicht eine Veränderung der Situation im eigenen Land angestrebt? Wir leben heutzutage in einer globalisierten Zeit, wo sich die Lebenswelten überall anpassen (und das nicht zum Positiven). Es wird Zeit, etwas bei sich selbst zu verbessern.
3. Meine Eingliederung (=Integration) in die Schweizer Gesellschaft gestaltete sich sehr schnell, sodass ich sehr schnell die Gefolgenheiten kannte. Gleichzeitig hat es einige Zeit (über 1 Jahr) in Anspruch genommen bis ich mich heimisch gefühlt habe. Und das obwohl ich den "Kulturkreis" kenne und nicht abgeschottet in Flüchtlingsheimen gelebt habe. Der Kontakt und Austausch sind ungemein wichtig, um dem Gegenüber und die vielfältigen Menschen kennenzulernen.

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